Die asymmetrische agentische Fähigkeitskluft
Highlights, Tech // Martin Rückert // 06.10.2025
Warum Sie das lesen sollten
Die Kundenkommunikation befindet sich in einem massiven Wandel. Unternehmen setzen zunehmend KI-gestützte agentische Fähigkeiten ein, um Kosten zu optimieren und Interaktionen zu skalieren. Doch dieser Wandel ist weitgehend einseitig: Unternehmen erwarten, dass Kunden persönlich mit diesen Agenten interagieren – doch viele Kunden wollen das schlicht nicht. Das wirft eine wichtige Frage auf: Was, wenn die Zukunft der Kommunikation nicht darin liegt, Maschinen menschlicher klingen zu lassen, sondern Kunden ihre eigenen Agenten zu geben?
Die Motivation: Warum sich Kundenservice verändert
Traditioneller Kundenservice war schon immer teuer. Jeder Hotline-Anruf kostet Unternehmen bares Geld – Schätzungen gehen von 7–20 US-Dollar pro Anruf aus, je nach Komplexität (Quelle: Liveagent). Um Kosten zu senken, setzen Organisationen heute große Foundation-Modelle (LFMs) ein. Diese Systeme können nicht nur Text verarbeiten, sondern auch natürlich klingende Stimmen mit emotionalen Nuancen generieren und so teure menschliche Callcenter-Mitarbeiter ersetzen.
Was mit einfachen regelbasierten Menüs begann, hat sich zu KI-gestützten „Agenten“ entwickelt, die Absichten erkennen, Informationen abfragen und menschenähnliche Dialoge führen können. Von Hotlines über Leadgenerierung, Betrugsprävention bis hin zu Markenmarketing – KI-Agenten werden in großem Umfang eingesetzt, um Menschen zu ersetzen oder zu unterstützen.
Die Unternehmenssicht: KI-Agenten als Stellvertreter menschlicher Interaktion
Moderne Customer Engagement Platforms (CEPs) nutzen prädiktive Modelle, um den effektivsten Kommunikationskanal auszuwählen – ob Stimme, Chat oder E-Mail – basierend auf dem Verhalten des Kunden. Die heutigen Sprachagenten sind nicht mehr rein regelbasiert, sondern hybride Systeme, die LLM-gestützte Sprachverarbeitung mit kontextueller emotionaler Ausdrucksfähigkeit kombinieren.
Ihr Ziel? Den menschlichen Servicemitarbeiter so nah wie möglich nachzuahmen – bei drastisch niedrigeren Betriebskosten. Ein menschlicher Agent kann 10–20 Mal teurer sein als ein virtueller, und Unternehmen drängen auf eine noch stärkere Substitution.
Doch hier liegt das Problem: Die „menschliche Note“ zu imitieren, garantiert keine bessere Kundenerfahrung.
Die Kundensicht: Warum es weiterhin unbefriedigend ist
Aus Kundensicht bringen diese Interaktionen selten Freude – egal ob mit einem Menschen, einem regelbasierten Bot oder einem ausgefeilten LLM-System. Die Realität ist einfach: Kunden suchen keine Gespräche, sie suchen Ergebnisse.
- Ich will einen Arzttermin buchen.
- Ich will das kaputte Handy meiner Frau reparieren lassen.
- Ich will eine Rückerstattung schnell bearbeiten lassen.
Mehr nicht. Den meisten Kunden ist es egal, ob das System Empathie zeigt, eine angenehme Stimme hat oder natürliche Pausen imitiert. Wichtig sind Schnelligkeit, Genauigkeit und Lösung.
Die Ironie: Selbst mit menschlichen Agenten fühlt sich der Service oft regelbasiert und geskriptet an, eingeschränkt durch vordefinierte Prozesse. Das wirft die Frage auf: Wenn das „Menschliche“ ohnehin schon auf ein Skript reduziert ist, warum nicht den Kunden ihre eigenen Agenten geben, die das für sie übernehmen?
Die Zukunft: Von Asymmetrie zu Symmetrie in agentischen Fähigkeiten
Heute besteht eine Asymmetrie in agentischen Fähigkeiten:
- Unternehmen setzen Armeen von KI-Agenten ein, um Kunden zu erreichen.
- Kunden verfügen nicht über gleichwertig starke Agenten, um diese Interaktionen für sie zu managen.
Die nächste technologische Ära wird diese Asymmetrie auflösen: Kunden werden eigene persönliche KI-Agenten haben, die Kommunikation in ihrem Namen übernehmen. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Ihr KI-Agent direkt mit dem Unternehmens-Agenten verhandelt – über optimierte Maschine-zu-Maschine-Protokolle, die Probleme in Sekunden lösen.
Hier könnten Unternehmen wie Apple (Siri) oder Google (Assistant) einspringen, da sie bereits das „letzte Stück“ der Kundeninteraktion besitzen. Start-ups hingegen haben bislang Konsumenten-Agenten vernachlässigt und sich stattdessen auf Geschäftsanwendungen konzentriert.
Geschäftliche Auswirkungen: Ein bevorstehendes Wettrüsten
Für Unternehmen bedeutet diese Entwicklung: Der Zugang zum Kunden wird schwieriger. Persönliche KI-Agenten werden uns vor ungewollter Kommunikation abschirmen, klassische Marketing- und Outbound-Calls verlieren an Wirkung. Auch Empfehlungssysteme, die auf historischen Kundenreisen trainiert wurden, geraten an Grenzen.
Der Fokus verschiebt sich auf indirekten Einfluss:
- Außergewöhnliche Produkterlebnisse liefern, die Wiederkäufe anregen.
- Reibungslose Problemlösungen schaffen, die Vertrauen stärken.
- Ein „Agent-gegen-Agent-Wettrüsten“ vermeiden, bei dem Kunden Marken als Gegner empfinden.
Unternehmen, die diesen Wandel nicht antizipieren, riskieren, Kunden zu entfremden und deren schnelle Hinwendung zu Gegen-Agenten zu fördern.
Eine Empfehlung für Unternehmensführer
Wenn Sie überlegen, KI-gestützte Agenten zur Kostensenkung einzusetzen, halten Sie inne und denken Sie um. Statt sich nur auf Kostensenkung zu konzentrieren, gestalten Sie Kommunikationsabläufe, die:
- Wertvoll sind: Ergebnisse liefern, die Kunden wirklich brauchen.
- Einfach sind: Reibung und Zeitverschwendung minimieren.
- Adaptiv sind: KI nicht nur zur Empathie-Simulation nutzen, sondern zur Optimierung von Ergebnissen in Echtzeit – z. B. Rückerstattungen, Angebote oder Lösungen je nach langfristigem Kundenwert anpassen, statt starren Regeln zu folgen.
Letztlich sollte Kundenkommunikation kein Graben, sondern eine Vereinigung von Zielen sein. Unternehmen und Kunden gewinnen beide, wenn Agenten Probleme effektiv lösen – nicht nur billig.
Abschließender Gedanke
Die asymmetrische agentische Fähigkeitskluft ist eine der zentralen Herausforderungen der kommenden digitalen Ära. Bei Tallence AG glauben wir, dass die Zukunft nicht darin liegt, Maschinen menschlicher wirken zu lassen, sondern symmetrische Ökosysteme zu schaffen, in denen Unternehmen und Kunden gleichermaßen von agentischen Fähigkeiten profitieren.
Eine offensichtliche Tatsache: Telekommunikationsanbieter sind von Natur aus prädestiniert, solche Services direkt in Kommunikationskanäle zu integrieren. Eine große Chance wäre, den kundenorientierten Agenten über einheitliche Kommunikationsplattformen wie Thor von Tallence AG bereitzustellen.
Die Frage ist nicht, ob diese Zukunft kommt, sondern ob Unternehmen bereit sein werden, wenn sie eintritt.

// Kontakt
Martin Rückert
- Chief AI Officer